Theoretisches Recht auf Gehör und Meinungsäusserung ist ungenügend

Fr., 04.07.2014 - 10:36

Kinder und Jugendliche haben in der Schweiz dank der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention seit 17 Jahren das Recht auf Anhörung. Bei allen Fragen, die sie betreffen, haben sie das Recht ihre Meinung zu äussern. Theoretisch. Leider happert es bei der Umsetzung. Wie Christine Bulliard-Marbach in ihrem aktuellen Postulat erwähnt, werden in Scheidungsprozessen gar nur 10 Prozent der betroffenen Kinder angehört.

Das Recht auf Gehör und Meinungsäusserung ist aus folgenden Überlegungen der Jahresschwerpunkt 2014 von Kinderanwaltschaft Schweiz:

Der Grund unseres Bestehens ist es, Kinder und Jugendliche, die mit dem Schweizer Rechtssystem in Kontakt kommen, auf ihrem schwierigen Weg zu stärken und zu schützen. Betroffene Kinder haben teilweise traumatische Erfahrungen hinter sich. Sie haben Angst, Ohnmacht oder gar Ausbeutung erlebt und befinden sich in einem verletzlichen emotionalen Zustand. Ein Risiko besteht, dass sie von Verfahren zusätzlich belastet werden und sich bei ihnen das Gefühl von Ohnmacht verstärkt. 

Kinder und Jugendliche haben jedoch auch eine Möglichkeit, gestärkt aus diesem Teufelskreis herauszufinden. Die Lösung heisst Resilienz: Die Fähigkeit schwierige Situationen zu meistern, so dass sich Kinder und Jugendliche trotz aussergewöhnlichen Umständen positiv entwickeln können. Ob ein Mensch Resilienz entwickelt oder nicht, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Lesen Sie dazu den aussagekräftigen Artikel im Tagesanzeiger vom 24. Juni 2014

Hier setzt das Recht auf Anhörung und Meinungsäusserung an. Der im Zusammenhang mit dem Recht der Meinungsäusserung relevante Resilienz-Faktor ist die Fähigkeit, das eigene Schicksal selber beeinflussen zu können. Dadurch, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Meinung ernst genommen werden, sie Selbstwirksamkeit erfahren und Lösungsprozesse aktiv mitgestalten können, wandeln sie sich von Opfern zu starken jungen Menschen. Eine Erfahrung, die den ganzen weiteren Lebensweg mitbestimmt.

Dass wir in der Schweiz noch nicht am Ziel angelangt sind, zeigt nochmals das Postulat von Christine Bulliard-Marbach auf. Sie zitiert dort den aktuellen Bericht der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen. Dieser ist deutlich in der Aussage, dass das Recht auf Anhörung, insbesondere in rechtlichen und administrativen Verfahren, nicht genügend umgesetzt wird. 

Reynard Mathias fragte im Jahr 2013 mittels einer Interpellation beim Bundesrat nach, ob dieser beabsichtige, dem Recht des Kindes auf Anhörung zu mehr Geltung zu verhelfen. Der Bundesrat verweist in seiner Antwort darauf, dass bei den zuständigen Behörden vermutungsweise wirklich ein Informationsdefizit bestehe, es jedoch ein genügend grosses Angebot an Institutionen gäbe, die sich für Kinderrechte engagieren, unter anderem Kinderanwaltschaft Schweiz. Der Bundesrat sieht deshalb keinen Bedarf für zusätzliche Informations- oder Aufklärungstätigkeiten seitens der Bundesbehörden. Wir sehen dies anders! Kindesschutz ist Aufgabe des Staates und nicht von privaten Unternehmen.

Die Umsetzung der Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz bis ins Jahr 2020 ist die Vision und das Ziel von Kinderanwaltschaft Schweiz. Die Leitlinien enthalten die Rechte auf Meinungsäusserung, Rechtsvertretung, Information und Beratung. Diese Rechte haben einen direkten Einfluss auf die Resilienz von Kindern und Jugendlichen und bieten effiziente Mittel für eine nachhaltige emotionale Stärkung und konkreten Schutz.

Irène Inderbitzin
Geschäftsführerin
Kinderanwaltschaft Schweiz