Bundesgerichtsentscheid zeigt: Der Einsatz für Kinderrechte in der Schweiz ist ungebrochen wichtig

So., 06.03.2016 - 08:15

Ein neuer Bundesgerichtsentscheid beschäftigt sich mit der Rechtsvertretung von Kindern und erhitzt derzeit die Gemüter von Fachpersonen, die sich für Kinderrechte in der Schweiz einsetzen. Da mit der Veröffentlichung des Urteils die Kenntnisnahme in Lehre und Praxis erwirkt wurde, sieht sich Kinderanwaltschaft Schweiz dazu veranlasst, Stellung zu beziehen. Das Urteil bedeutet für die Rechte von Kindern einen klaren Rückschritt, indem es die Partizipation von Kindern in Verfahren, die sie direkt betreffen, zur Farce verkommen lässt. Es negiert die unermüdliche und erfolgreiche Arbeit, die während den letzten 15 Jahren in der Schweiz für die Etablierung von Kinderanwältinnen und Kinderanwälten geleistet wurde. Überdies setzt sich das Bundesgericht damit in Widerspruch zu seiner bisherigen Rechtsprechung.

Nachfolgend listen wir die aus unserer Sicht stossenden Punkte auf und erläutern deren negative Bedeutung für Kinder.

Objektiviertes Kindeswohl oder subjektiver Kindeswille?

Die Rechte von Kindern in einem spezifischen Land hängen eng mit ihrer gesellschaftlichen Position zusammen. Seit den 90-er Jahren hat sich diese in der Schweiz stark geändert: Das Kind, zuerst lange Zeit als Schutzobjekt wahrgenommen, erlangte in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend den Status eines auf der Menschenwürde basierenden Rechtssubjekts mit eigenen Rechten und Interessen. Die Schweiz festigte diese Entwicklung im Jahre 1997 mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK), welche den Kindern das Recht auf Beteiligung und Gehör bei Verfahren zusichert.

Um auf die aktuelle Situation in der Schweiz einzugehen, benötigt es einen kurzen Exkurs zu den Begrifflichkeiten: Das objektivierte Kindeswohl impliziert die Existenz von universellen Kriterien eines objektiven Idealzustandes, wohingegen der subjektive Kindeswille sich stets auf die realen inneren Zustände des individuellen Kindes stützt.

Resultierend aus der gesellschaftlichen Entwicklung ist es für Lehre und Praxis heute unbestritten, dass es beides benötigt. Eine Differenzierung muss jedoch bei den Verantwortlichkeiten vorgenommen werden: Die Eruierung des subjektiven Kindeswillens, der ein fester Teil des Kindeswohls ist, nimmt die Rechtsvertretung vor. Sie leitet diesen an die Behörden und Gerichte weiter. Die Behörden und Gerichte integrieren den subjektiven Kindeswillen in das Kindeswohl und definieren objektiv zum Schutz des ganzheitlichen Kindeswohls das Kindesinteresse. Dort bedarf es einheitlicher Standards, um eine Willkür zu unterbinden.

Das Bundesgericht schreibt:
Das Kind wird somit nur in formeller, nicht aber materieller Hinsicht als Partei begriffen. Damit liegt nahe, dass der Prozessbeistand im eherechtlichen Verfahren nicht in erster Linie subjektive Standpunkte zu vertreten, sondern das objektive Kindeswohl zu ermitteln und zu dessen Verwirklichung beizutragen hat. Eine im eigentlichen Sinn anwaltliche, auf den subjektiven Standpunkt des Vertretenen fokussierte Tätigkeit ist nicht angezeigt. (BGE 5A_52/2015 5.2.2)

Was sagt Kinderanwaltschaft Schweiz dazu?
Wie bereits im oberen Abschnitt erwähnt, ist der subjektive Kindeswille zwingender Bestandteil des Kindeswohls. Kinderanwaltschaft Schweiz sieht die Aufgabe einer anwaltschaftlichen Vertretung klar darin, diesen Kindeswillen mit dem Kind zu eruieren und sein Recht auf Meinungsäusserung dem Gericht mitzuteilen. 

Der starke Fokus der Rechtsvertretung auf das objektive Kindeswohl widerspricht der bisherigen Lehre und Praxis, die sich nicht zuletzt aus einem Urteil des Bundesgerichts von 2006 etabliert hat, welches den subjektiven Kindeswillen noch wesentlich stärker ins Zentrum gerückt hat.

Ebenfalls in der UN-KRK (Art. 3 und 12) wie auch in den praxisorientierten Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz stellt die Partizipation von Kindern und Jugendlichen in sie betreffenden Verfahren einen der wichtigsten Punkte dar. Wird der subjektive Kindeswille negiert, verkommt die Partizipation zu einer Farce. Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen würde dies eine drastische Verschlechterung bedeuten und sie zurück in die ohnmächtige Position am Rande des Geschehens verdrängen.  

Werden sie hingegen in ihrer Meinung ernst genommen, erfahren sie durch das aktive Mitgestalten des Lösungsprozesses Selbstwirksamkeit. Diese Erfahrung stärkt die jungen Menschen in ihrer Resilienz – oftmals ist es eine Erfahrung, die den ganzen weiteren Lebensweg positiv mitbestimmt.

Was ist der Unterschied zwischen Beistandschaft und Rechtsvertretung?

Die Rolle einer Rechtsvertretung grenzt sich stark von der Rolle eines Beistandes ab. Eine Beiständin oder ein Beistand setzt einen Entscheid der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) um. Die KESB kann der Beiständin oder dem Beistand zudem bestimmte Rechte übertragen, zum Beispiel die Ausübung des Besuchsrechts zu überwachen. Der Beistand steht zudem nicht nur “neben“ dem Kind, sondern auch „zwischen“ den Eltern und dem Kind.

Kinderanwält*innen in der Rolle einer Rechtsvertretung hingegen setzen sich ausschliesslich für die Rechte der Kinder und Jugendlichen ein. Sie sind auch nur ihnen verpflichtet und transportieren deren Willen zum Gericht, zu den Behörden und zu den Eltern. Der Kinderanwalt bringt nicht seine persönliche Meinung im Sinne des von Gerichten oder Behörden “objektivierten” Kindeswohls vor, sondern versucht – analog wie bei einem erwachsenen Mandaten – festzustellen, was die Ansichten und Meinungen des Kindes sind und vertritt diese. Die Unabhängigkeit ist ein zentrales Element von Rechtsvertretungen von Kindern.

Das Bundesgericht schreibt:
Im Lichte der für Kinderbelange geltenden strengen Untersuchungsmaxime und der Offizialmaxime ist die Kindesvertretung grundsätzlich aber nur notwendig, wenn sie dem Gericht effektiv zusätzliche Unterstützung und Entscheidhilfen bieten könnte bei der Frage, ob im jeweiligen Einzelfall das Kindeswohl eine bestimmte Regelung oder Massnahme (Sorgerecht, Obhut oder persönlicher Verkehr) erfordert oder einer solchen entgegensteht. Besteht beispielsweise eine Beistandschaft nach Art. 308 ZGB und liefert der Beistand dem Gericht ein umfassendes, elternunabhängiges und neutrales Bild von der konkreten Situation (örtlich, häuslich, schulisch, Interaktion zwischen Kind und Eltern sowie Geschwistern etc.), bedarf es keiner Verdoppelung der Informationsquelle und entsprechend keines diesbezüglichen Beitrags der Kindesvertretung.  (BGE  5A_52/2015 5.1.2)

Was sagt Kinderanwaltschaft Schweiz dazu?
Das Bundesgericht geht davon aus, dass wenn eine Beistandschaft besteht, die eine objektive Sachverhaltsabklärung dem Gericht zustellt, es keine Rechtsvertretung benötigt. Diese Annahme beruht ebenfalls auf der inkorrekten Abstützung des objektivierten Kindeswohls. Anstatt das Kind bei der Meinungsbildung zu unterstützen und den subjektiven Kindeswillen vor Gericht zu vertreten, reduziert das Bundesgericht die Tätigkeit der Rechtsvertretung auf die Abklärung des Sachverhaltes.

Wäre das die Intention des Gesetzgebers gewesen, hätte es die neue Institution der Rechtsvertretung von Kindern und Jugendlichen gar nicht benötigt, sondern die bestehende Beistandschaft wäre ausreichend gewesen. Deshalb ist es elementar wichtig, zu sehen: Wenn der Rechtsvertretung von Kindern das anwaltschaftliche Element fehlt, wird dem Kind die Tauglichkeit abgesprochen, seine Partizipation auszuüben. Es fällt dann zurück auf seinen ehemaligen Status, dem eines Verfahrensobjekts. Aufgrund der rechtlichen Komplexität sowie der besonderen psychosozialen Kenntnisse, die es im Umgang mit jungen Klienten bedarf, braucht es spezifisch ausgebildete Kinderanwältinnen und Kinderanwälte für diese Tätigkeit (siehe nächster Abschnitt).

Müssen Kinderanwälte Rechtsanwälte sein?

Ebenfalls gestützt nicht zuletzt auf die Rechtsprechung vom Bundesgericht aus dem Jahre 2006, hat sich in der Schweiz die Praxis entwickelt, dass Kinderanwälte eine interdisziplinäre Ausbildung durchlaufen müssen. Die Hochschule Luzern bietet seit 2007 einen CAS Kindesvertretung an.

Nebst persönlichen Voraussetzungen, wie einem hohen Mass an Empathie, Belastbarkeit und einem aufrichtigen Interesse für die Belange von Kindern und Jugendlichen, müssen Rechtsvertretungen von Kindern einen Universitäts-, Fachhochschul- oder gleichwertigen Fachabschluss in den Bereichen Recht, Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Psychologie oder Medizin vorweisen. Sie benötigen zudem zwei Jahre Berufserfahrung mit Bezug zu Rechtsvertretungen von Kindern und Jugendlichen sowie eine Zusatzqualifikation: Juristische Fachpersonen müssen sich in Psychologie, Sozialarbeit oder Pädagogik weiterbilden und Fachpersonen aus Psychologie, Sozialarbeit und Pädagogik benötigen eine juristische Weiterbildung.

Das Bundesgericht schreibt:
Da es sich bei der Kindesvertretung funktionell nicht um anwaltliche Tätigkeit handelt (oben E. 5.2.2), ist davon auszugehen, dass der anwaltliche Verfahrensbeistand den Ausnahmefall bildet.[...] Doch ist der Beizug eines Anwalts in der Regel nicht gerechtfertigt, wenn ein sehr grosser Anteil der – stets interdisziplinären – Tätigkeit auf Abklärungen vor Ort (Befragungen von Bezugspersonen etc.) entfällt. Dafür sind (hinreichend rechtskundige) Sozialarbeiter, Sozialpädagogen oder – gerade bei kleinen Kindern – Kinderpsychologen (allenfalls auch Juristen mit entsprechender Weiterbildung) besser geeignet. (BGE  5A_52/2015 5.3.4.1.)

Was sagt Kinderanwaltschaft Schweiz dazu?
Wird das Kind, wie in Lehre und Praxis gängig, als eigenständiges Verfahrenssubjekt angesehen, hat es Anspruch auf anwaltliche Vertretung vor Gericht, sowie darauf, dass ihm das Verfahren altersentsprechend erklärt wird und es Unterstützung im Meinungsbildungsprozess zu seinem Willen erfährt. Eben dieser subjektive Kindeswille wird von der Rechtsvertretung dem Gericht überbracht. Aufgrund dieser hohen Ansprüche benötigt die Rechtsvertretung ein breit abgestütztes Wissen: juristisches Wissen und Kenntnisse im Prozessrecht sowie Wissen in Entwicklungspsychologie, Konfliktmanagement und Gesprächsführung mit Kindern. Kinderanwaltschaft Schweiz bietet Zertifizierungen an, um die Sicherung möglichst hoher Qualitätsstandards in der Rechtsvertretung von Kindern und Jugendlichen zu etablieren.

Der Irrtum im Bundesgerichtsentscheid resultiert somit aus dem falschen Verständnis der Tätigkeiten der Rechtsvertretungen von Kindern, die das Bundesgericht primär in der Abklärung von Sachverhalten zuhanden des Gerichts sieht und nicht als anwaltliche Vertretung. Personen, die eine Rechtsvertretung wahrnehmen, müssen somit keine Rechtsanwälte sein, aber dieses vertiefte Wissen in den Rechten mitbringen.

Der Ermessensspielraum muss geschlossen werden

Das Bundesgerichtsurteil zeigt es in aller Deutlichkeit auf: Der Einsatz für die Umsetzung der Kinderrechte in der Schweiz ist ungebrochen wichtig und dringlich. Der heute noch vorhandene Ermessensspielraum muss geschlossen werden und für jede Behörde und jedes Gericht muss es ausser Frage stehen, dass Kinder zwingende Rechte haben.

Kinderanwaltschaft Schweiz fordert deshalb die umfassende Umsetzung der Leitlinien für eine kindgerechte Justiz:

  • Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit muss für Kinder und Erwachsene gleichermassen uneingeschränkte Anwendung finden.

  • Kinder haben das Recht auf Zugang zu angemessenen, unabhängigen und wirksamen Beschwerdemechanismen.

  • Das Kind hat Recht auf eine qualifizierte Rechtsvertretung, welche seine Meinung und seine Standpunkte gegenüber Behörden und Gerichten vertritt.

  • Das Recht auf Gehör ist dem Kind in vollem Umfang und unter Berücksichtigung von Alter und Reife zuzusichern.

  • Kinder müssen begleitet werden: Besonders bei Entscheiden mit zentraler Wirkung muss eine unabhängige, auf Kinder spezialisierte Rechtsvertretung eingesetzt werden. Die Rechtsvertretung erhält vollständige Akteneinsicht und stellt auch das Informiertsein und die Partizipation der Kinder sicher. Das Kind ist Hauptpartei im Prozess und sein subjektiver Kindeswille wird als Teil des Kindeswohls gesehen.

  • Kinder brauchen Spezialisten an ihrer Seite: Fachpersonen bei Behörden, Gerichten, Ämtern, der Jugendstrafrechtspflege, Staatsanwaltschaft sowie der Polizei müssen kindesspezifisch aus-, fort- und weitergebildet sein.

  • Kinder brauchen ein eigenes Ombudsoffice.

Kinderanwaltschaft Schweiz plädiert dafür, dass die aus dem Urteil resultierende Definition der Tätigkeit einer Rechtsvertretung in der Lehre sowie der Praxis keine Anwendung findet, sondern den Kindern endlich ihre Rechte zugestanden werden. Rechtsvertretungen sind keine “Gehilfen” der Behörden und der Gerichte, sondern unabhängige und anwaltliche Vertretungen von Kindern.

Herzliche Grüsse

Kinderanwaltschaft Schweiz


Child-friendly Justice - Auszug:

2. Rechtsbeistand und Vertretung


37. In Verfahren, in denen ein Interessenkonflikt zwischen dem Kind und seinen Eltern oder anderen beteiligten Parteien besteht oder bestehen könnte, sollten Kinder das Recht haben, sich in eigenem Namen von einem Rechtsbeistand vertreten zu lassen. 


38. Kinder sollten unter denselben oder unter weniger strengen Voraussetzungen als Erwachsene Zugang freiem Rechtsbeistand haben. 


39. Rechtsanwälte, die Kinder vertreten, sollten in Kinderrechten und damit verbundenen Themen geschult und bewandert sein, sich regelmäßig umfassend fortbilden und in der Lage sein, mit Kindern auf deren Verständnisebene zu kommunizieren. 


40. Kinder sollten als vollwertige Mandanten mit ihren eigenen Rechten angesehen werden und Rechtsanwälte, die Kinder vertreten, sollten deren Meinung vortragen.

41. Rechtsanwälte sollten dem Kind alle erforderlichen Informationen und Erklärungen zu den möglichen Folgen der Standpunkte und/ oder Meinungen, die es vertritt, geben.

42. Im Fall von Interessenkonflikten zwischen Eltern und Kindern sollte die zuständige Behörde entweder einen Prozesspfleger („guardian ad litim“) oder einen anderen unabhängigen Vertreter bestellen, der die Ansichten und Interessen des Kindes vertritt.

43. Besonders in Verfahren, in denen die Eltern, Familienmitglieder oder Betreuer die mutmaßlichen Täter sind, sollten eine angemessene Vertretung sowie das Recht auf Vertretung unabhängig von den Eltern garantiert sein.