Kinder im rechtslosen Raum

Fr., 19.12.2014 - 08:53

Der Alltag lässt uns schnell vergessen: Vor 1997 galten Kinder in der Schweiz rechtlich noch als “schutzbedürftige Objekte”. Erst im Jahr 1997 ratifizierte die Schweiz als eines der letzten Länder die UN-Kinderrechtskonvention und sollte Kinder seither als Subjekte mit eigenen Rechten betrachten. In der Schweizer Praxis klaffen jedoch bis heute noch Lücken: Kinderanwaltschaft Schweiz setzt sich deshalb für die Verwirklichung eines kindgerechten Rechtssystems, durch die Umsetzung der Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz (Child-friendly Justice), ein.

Mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention hat sich die Schweiz verpflichtet, in regelmässigen Abständen bei der UNO einen Bericht einzureichen: Im Januar 2015 muss die Schweiz vor dem Kinderrechtsausschuss unter anderem darüber Auskunft geben, ob sie eine nationale Institution zur Überwachung der Einhaltung der Kinderrechte geschaffen hat. Die Schaffung einer solchen Institution basiert auf der Empfehlung General Comment No 5 von 2003 der UN-Kinderrechtskonvention.

Der Bericht der SKMR über die Einrichtung einer Ombudsstelle

Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) veröffentlichte am 16. Dezember 2014 seine Überlegungen zur Einrichtung einer oder mehrerer unabhängigen Stellen zur Überwachung der Kinderrechte auf kantonaler und/oder nationaler Ebene in der Schweiz. Das SKMR bedauert, dass die Motion von Bulliard-Marbach Christine für die Schaffung einer unabhängigen Ombudsstelle für die Rechte des Kindes vom Bundesrat zur Ablehnung empfohlen wurde. Dies passierte am 19. November 2014 – ein Tag vor dem 25. Jahrestag der Ratifizierung der Kinderrechtskonvention. Der Bundesrat empfiehlt stattdessen eine Koordination der bereits existierenden Massnahmen verschiedener Organisationen, anstatt der Schaffung einer neuen Stelle.

Diese Argumentation greift unserer Ansicht nach zu kurz: Mehrere europäische Länder haben Stellen geschaffen, die sich ausschliesslich mit der Verteidigung und Förderung der Kinderrechte beschäftigen. Seit 1997 haben sich 43 unabhängige Institutionen aus 35 europäischen Ländern zu einem europäischen Netzwerk von Mediator/innen für Kinder zusammengschlossen – nicht eine Schweizer Institution ist dort vertreten, aufgrund der mangelnden gesetzlichen Legitimierung.

Kinder im rechtslosen Raum – darum eine Ombudsstelle

Der akute Handlungsbedarf in der Schweiz und die Notwendigkeit einer Ombudsstelle zeigt sich insbesondere an folgendem Beispiel: Ein nicht urteilsfähiges Kind ohne Eltern oder mit Eltern, denen jedoch das Sorgerecht entzogen wurde, kommt mit einer Behörde oder dem Gericht in Kontakt. Ein Entscheid wird durch das Gericht oder eine KESB gefällt ohne Einsetzung einer Rechtsvertretung. Das Kind ist mit dem Entscheid nicht einverstanden und eine Beschwerde müsste eingereicht werden.

Ein urteilsfähiges Kind hat die Möglichkeit ein Mandat für eine eigene Rechtsvertretung zu vergeben und das Gericht muss diese Rechtsvertretung respektieren und die Beschwerde behandeln. Ist das Kind jedoch nicht urteilsfähig, gibt es keine rechtsmässige Person, die aktiv werden kann. Derzeit befinden sich diese nicht urteilsfähigen Kinder also in einem rechtslosen Raum – ein Zustand, der uns wieder in die Zeit vor 1997 zurückversetzt und den wir so nicht akzeptieren können. Die Lösung ist naheliegend und einfach: Es muss ein Gesetz geschaffen werden, welches statuiert, dass nicht urteilsfähige Kinder immer eine Rechtsvertretung, eine sogenannte unentgeltliche Rechtspflege, erhalten und es braucht eine Ombudsstelle mit entsprechenden Handlungskompetenzen, die im Namen des Kindes tätig werden kann.

Es besteht dringender Handlungsbedarf

Das Ziel von Kinderanwaltschaft Schweiz ist die Integration der Kinderrechte in das Schweizer Rechtssystem. Der politische Widerstand gegen “fremde” Richter bzw. den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sollte die Stärkung der Kinderrechte in der Schweiz nicht bremsen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen diesen Moment nutzen und uns kritisch fragen, was es in der Schweiz braucht, damit alle Gerichte und Behörden die Kinderrechte anwenden und in ihren Entscheidungen berücksichtigen.

In diesem Sinne werden wir uns auch im neuen Jahr in gemeinsamer Zusammenarbeit mit anderen nationalen und internationalen Organisationen und Instituten für das Wohlergehen aller Kinder einsetzen.

Irène Inderbitzin
Geschäftsführerin
Kinderanwaltschaft Schweiz